Unendliche Weiten

oder: Optimierung von Schärfentiefe und Auflösung bei Landschaftsaufnahmen


Thomas Wollstein
Mai 2001


Zusammenfassung:
Schärfentiefeskalen an Objektiven sind keine schwarze Magie, und sie sind auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Mit einem Minimum an arithmetischem Ballast werden Sie nach der Lektüre dieses Artikels in der glücklichen Lage sein, der Schärfentiefeskala auf Ihren Objektiven nicht blind vertrauen zu müssen, sondern bewusst entscheiden zu können, welche Objekte im Bild noch aufgelöst werden sollen und welche nicht.

Ich möchte Ihnen die Gründe dafür aufzeigen, dass das Einstellen nach Schärfentiefenskala nicht immer die bestmöglichen Ergebnisse liefert, speziell, wenn es darum geht, auch im Unendlichen eine hohe Auflösung zu erzielen. Die allgemeine Vorrede darüber, wie es zur Schärfentiefe kommt und warum der Bereich größer ist, je stärker man abblendet, möchte ich mir ersparen. Ich gehe davon aus, dass das die meisten Leser nur langweilen würde.

Die in diesem Beitrag verfolgte Argumentationskette geht zurück auf eine Reihe von Artikeln von Harold Merklinger in Shutterbug. Unter den Literaturhinweisen am Ende finden Sie den Hinweis auf URLs, unter denen Sie die Artikel - allerdings in Englisch - online lesen können, wenn Sie gerne noch detaillierter in die Materie einsteigen möchten.

Wenn wir auf eine bestimmte Entfernung scharf stellen, werden streng genommen nur solche Objekte scharf abgebildet, die sich in genau dieser Entfernung befinden. Alles davor oder dahinter wird mehr oder weniger unscharf abgebildet, und zwar je weiter es von der Einstellentfernung abweicht, desto unschärfer. Das stellt Bild 1 dar: Der scharfe Punkt in der Filmebene ergibt ein konvergentes Strahlenbündel, das ab dem Objektiv bis zu einer bestimmten Entfernung konvergiert und sich wieder zu einem Punkt vereinigt, dahinter aber wieder divergiert.

 

 

07-Scharfstellung

Bild 1: Strahlengang bei Scharfstellung auf eine bestimmte Entfernung

Bei stärkerem Abblenden wird das Strahlenbündel insgesamt schmaler und damit auch "spitzer". D. h. es läuft vor und hinter der Einstellentfernung nicht so schnell auseinander. Dadurch wird der Bereich der Schärfentiefe größer. Das wird durch das grün eingezeichnete Bündel veranschaulicht.

Wenn wir auf Unendlich scharfstellen, "konvergiert" das Strahlenbündel im Unendlichen, was heißt, dass es ein Parallelbündel ist. Das stellt Bild 2 dar.

 

 

07-Scharfstellung2Bild 2: Strahlengang bei Scharfstellung auf Unendlich

Hier führt stärkeres Abblenden zu einem dünneren, aber nach wie vor parallelen (ebenfalls grün eingezeichneten) Bündel. Der Durchmesser des Parallelbündels ist der Durchmesser der Blendenöffnung. Darauf kommen wir später noch zurück.

In diesen beiden Abbildungen steckt der Schlüssel zur Schärfeoptimierung!

Wenn Sie die Schärfentiefeskala an Ihrem Objektiv oder die so genannte hyperfokale Entfernung benutzen, stellen Sie eine feste Entfernung ein und sorgen durch Abblenden - also durch Zusammenziehen des Strahlenbündels - dafür, dass sich der scharf erscheinende Bereich so weit nach vorne und hinten erstreckt, wie es Ihrer Bildvorstellung entspricht. Bei Anwendung dieser Methode ist es üblich, die Unendlichmarkierung auf der Schärfentiefeskala auf die jeweilige Blendenzahl einzustellen, damit sich der Schärfebereich bis möglichst nah an die Kamera heran erstreckt.

Damit scheint zunächst alles in Butter. Von einem Nahpunkt bis ins Unendliche scheint alles scharf. Wenn Sie jedoch auf Bild 1 schauen, werden Sie sehen, wo sich Probleme ergeben könnten: Hinter der Einstellentfernung läuft das Bündel wieder auseinander.

Was bedeutet das in der Praxis? Ein Gegenstand wird dann im Foto aufgelöst, wenn der Durchmesser des Strahlenbündels in der Entfernung, in der er sich befindet, nicht größer ist als seine kleinste Abmessung. Eine Antenne auf einem weit entfernten Haus würde z. B. aufgelöst, wenn der Durchmesser des Strahlenbündels in der bewussten Entfernung nicht größer ist als die Dicke des Antennenmastes. Wenn das Strahlenbündel nur ein bisschen divergent ist, ist es nur eine Frage der Entfernung, wann es dicker ist als der Antennenmast. Bei 20 m Abstand mag der Mast noch erkennbar sein, aber bei 50 m oder 100 m ist er es vielleicht dann nicht mehr. Sehen Sie, worauf ich hinauswill?

Im Fall der Unendlich-Fokussierung erzeugen Sie ein Parallelbündel, dessen Durchmesser Sie direkt über den Durchmesser der Blendenöffnung festlegen. Das Parallelbündel hat (per Definition) in jeder Entfernung von der Kamera denselben Durchmesser. Das aber heißt: Die Auflösung ist unabhängig von der Entfernung und konstant! Ein Mast, der bei 20 m Abstand aufgelöst wird, wird dies auch bei 50 m und bei 100 m 1).

Einen Punkt muss man allerdings noch hervorheben: Dass ein Motivelement aufgelöst wird, heißt nicht, dass es im Bild auch scharf wiedergegeben wird. Bild 3 verdeutlicht diesen Unterschied: Beide Linienraster sind einwandfrei aufgelöst, aber ganz offensichtlich ist das untere nicht scharf.

07-Aufloesung

Bild 3: Aufgelöst ist nicht dasselbe wie scharf

Unter den für die Schärfentiefeskala zugrunde gelegten Randbedingungen 2) hinsichtlich des Betrachtungsabstandes vom vollformatig vergrößerten Bild wird all das im Bild "scharf" dargestellt, was zwischen Nahpunkt und Fernpunkt liegt. Das gilt in jedem Fall. Man überlegt sich leicht (zur Not mit einer Kamera in der Hand und mit der Entfernungseinstellung spielend), welche Konsequenzen das bei den beiden Varianten hat:

Nehmen wir an, ich fotografiere mit Blende 8 und einer Brennweite von 35 mm. Bei Einstellung der Unendlichmarkierung auf die Markierung für Blende 8 auf der Tiefenschärfeskala meiner Minox 35, was einer Einstellung auf etwa 7 m entspricht, sehe ich, dass sich der Schärfebereich von etwa 3 m bis Unendlich erstrecken wird.

Bei Einstellung auf Unendlich "verschenke" ich die Hälfte des Schärfentiefebereiches. Jetzt entnehme ich der Skala, dass nur noch der Bereich von etwa 7 m bis Unendlich scharf wiedergegeben wird. Aber: Die Auflösung bei weit entfernten Gegenständen ist besser! Der Durchmesser des Parallelbündels ist leicht auszurechnen, nämlich

Bündeldurchmesser bei Einstellung auf Unendlich = Brennweite geteilt durch Blendenzahl

hier also konkret bei 35 mm Brennweite und Blende 8 etwa 4,5 mm, unabhängig von der Entfernung.

Sie haben bei vorgegebener Blende also die Wahl:

  • Größtmögliche Tiefenschärfe zur Kamera hin erhalten Sie auf Kosten der Auflösung im Unendlichen.
  • Größtmögliche Auflösung (und Schärfe) im Unendlichen erhalten Sie auf Kosten der Nahgrenze des Schärfebereichs.

Legende
d      Durchmesser der Blende

D      Abstand Blende - Objekt
         (Bei Landschaft praktisch Abstand Kamera - Objekt)
E      Abstand von der Einstellentfernung
s        Streukreisdurchmesser

07-Aufloesung2

Bild 4: Zur Berechnung der Größe des kleinsten auflösbaren Objektes

Bild 1 und Bild 2 enthalten schon alles Wesentliche, um überlegen zu können, welche Einstellung man wählt. Im Bild 4 sind die entsprechenden Symbole und eine Formel eingetragen. Aber auch ohne Formel ist die Überlegung fast trivial:

Ein Objekt, das von der Einstellentfernung D aus um 1/10 D näher zu Ihnen hin liegt, wird genau dann aufgelöst, wenn seine Größe mindestens 1/10 des Blendendurchmessers beträgt. Analoges gilt, wenn es weiter weg liegt.

Bei Einstellung auf Unendlich wird's noch einfacher: Ungeachtet seines Abstandes wird jedes Objekt aufgelöst, das größer ist als der Blendendurchmesser.

Betrachten wir das am Beispiel eines Landschaftsfotos mit einer Brennweite von 100 mm bei Blende 8. Der Blendendurchmesser beträgt dann rund 12 mm. Im Abstand von 10 m möge eine Ziegelmauer stehen, im Hintergrund, etwa 1,5 km entfernt möge sich ein Dorf befinden.

Die günstigste Einstellentfernung (Schärfentiefenskala) würde bei dieser Konfiguration bei etwa 30 m liegen. Bei Einstellung auf 30 m beträgt der Streukreisdurchmesser an der Ziegelmauer etwa 8 mm. (Setzen Sie in die Gleichung ein: E = 20 m, D = 30 m, d = 12 mm.). Der Streukreisdurchmesser in 1,5 km Entfernung, beim Dorf, beträgt ganze 60 cm (E = 1470 m [1500 wäre aber genau genug 3)], D und d wie vor). Das bedeutet im Klartext, dass die Fugen in der Ziegelmauer sicher noch aufgelöst würden, aber die Fenster in den Häusern des Dorfes wären nur noch diffuse Flecken.

Bei Einstellung auf Unendlich sieht die Sache wie folgt aus: Streukreisdurchmesser nach Bild 2 bei der Mauer wie im Dorf rund 12 mm. Die Mauerfugen wären ein wenig schlechter aufgelöst (aber vermutlich immer noch erkennbar), aber die Fenster der Häuser im Dorf wären klar als solche erkennbar, und man würde auch den Hahn auf dem Kirchturm noch gut erkennen (vielleicht nicht als Hahn, aber sicher als Wetterfahne).

Daraus folgt, dass es nur einen Weg gibt, bei Landschaftsaufnahmen die Schärfe und Auflösung im Vordergrund zu verbessern, ohne sie im Hintergrund zu verlieren: Abblenden.

Regel 1: Wenn im Unendlichen feine Details aufgelöst werden sollen

Wenn Sie die Schärfentiefe maximieren möchten, ohne die Auflösung in der Ferne zu verlieren, stellen Sie auf Unendlich scharf und blenden Sie so weit ab, bis das kleinste aufzulösende Detail im Vordergrund größer ist als Ihre Blendenöffnung.

Regel 2: Wenn Auflösung im Unendlichen weniger wichtig ist als Schärfe im Nah- und Mittelbereich

Stellen Sie nach Schärfentiefeskala scharf oder auf das Objekt, das Ihnen am wichtigsten ist.

Vorsicht Falle! Leider kommt uns bei kleinen Blenden die Physik in die Quere. Je kleiner die Blendenöffnung, desto größer wird der durch Beugung bedingte Streukreisdurchmesser. Daher wird die Auflösung in der Ferne wieder etwas schlechter. Ohne Ableitung glauben Sie mir bitte, dass man den Beugungskreisdurchmesser annähern kann als D/1600d. Für unser Beispiel würde das bedeuten, dass auch bei Unendlich-Einstellung der Streukreisdurchmesser in 1,5 km Entfernung durch Beugung bei etwa 10 cm liegen würde und nicht bei 11 mm (was aber immer noch erheblich besser ist als die 60 cm bei Einstellung auf 30 m).

Ziehen wir aus dem Ganzen noch ein paar Schlussfolgerungen:

Mittel- und Großformataufnahmen

Bei Mittel- und Großformat sind bei gleichem Bildwinkel die Brennweiten länger, die Blendendurchmesser entsprechend bei gleicher Blendenzahl größer. Das heißt, dass bei gleichem Abstand und gleichem Ausschnitt der Streukreisdurchmesser größer wird, das kleinste auflösbare Detail also auch größer sein muss. Es heißt aber auch, dass die beugungsbedingte Unschärfe geringer wird. Gleichermaßen werden gleich große Objekte in der Filmebene größer abgebildet, so dass man erst später an die Grenze der Filmauflösung stößt.

Verwacklungsunschärfe

... haben wir nicht betrachtet. Wenn Sie an die Grenzen des optisch Machbaren vordringen möchten, tun Sie gut daran, ein Stativ zu benutzen, kurze Verschlusszeiten zu wählen (da beißt sich die Katze in den Schwanz, wenn Sie gleichzeitig abblenden möchten) und - bei Spiegelreflexkameras, besonders bei längeren Brennweiten - Spiegelvorauslösung zu benutzen. Auch Wind kann bei Landschaftsaufnahmen ein guter Grund sein, eine kürzere Verschlusszeit zu benutzen.

Literaturhinweise

[1] Harold M. Merklinger, Depth of Field Revisited (zusammenfassend, ohne Details),
http://www.trenholm.org/hmmerk/DOFR.html
Adjusting Depth of Field, as published in Shutterbug, Oct. 1991
http://www.trenholm.org/hmmerk/SHBG01.pdf
Adjusting Depth of Field - Part II, as published in Shutterbug, May 1992, 
http://www.trenholm.org/hmmerk/SHBG02.pdf
Adjusting Depth of Field - Part III, as published in Shutterbug, June1992,

http://www.trenholm.org/hmmerk/SHBG03.pdf
Adjusting Depth of Field - Part IV, as published in Shutterbug, July 1992,

http://www.trenholm.org/hmmerk/SHBG04.pdf

[2] Ctein, Post Exposure - Advanced Techniques for the Photographic Printer, Focal Press 2000, ISBN 0-240-80229-3
Inzwischen kostenlos als Download von der Seite des Autors: http://ctein.com/booksmpl.htm

[3] Marchesi, Jost J., Handbuch der Fotografie, Bd. 1: Geschichte; Chemisch-physikalische und optische Grundlagen, Verlag Photographie, 1. Auflage 1993, ISBN 3-7231-0024-4

Fußnoten:

  1. Das gilt natürlich auch wieder nur im Rahmen dessen, was Film und Optik leisten können. Es bleibt ja dabei, dass Gegenstände kleiner abgebildet werden, wenn sie weiter entfernt sind. Irgendwann unterschreitet ihre Bildgröße dann z. B. die Auflösung des Filmmaterials.
     
  2. Es lohnt sich, auch hierüber nachzudenken: Bei der Berechnung der Skalen muss der Objektivhersteller festlegen, welchen Streukreisdurchmesser er als Kriterium ansetzt. Bei älteren Kameras sind meist wesentlich größere Durchmesser angesetzt als bei neuen, da die damaligen Filmmaterialien die Grenze niedriger setzten. So weiß ich z. B. dass bei meiner 40 Jahre alten Kodak Retina Ib die Skala für einen Streukreisdurchmesser von 1/20 mm gerechnet wurde, bei meiner 20 Jahre alten Minox 35 wurden m. W. schon nur noch 1/30 mm zugelassen. Lt. [3] sind die Schärfentiefeskalen aktueller Objektive nach der Konvention gerechnet, dass der zulässige Streukreisdurchmesser 1/2 000 der Normalbrennweite beträgt, also bei KB 1/40 mm. Genießen Sie also Schärfentiefeskalen mit Vorsicht!
     
  3. Es lohnt nicht, bei diesen Berechnungen alle Stellen zu verwenden, die der Taschenrechner hergibt, denn es handelt sich um eine Näherung. Um für die Aufnahme eine Idee zu bekommen, brauchen Sie in erster Linie die Größenordnung.

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