Lückenbüßer
(ein Artikel, der nicht geplant war)
Thomas Wollstein
Juli 2003
Vorrede
Eigentlich sollte diesen Monat ein ganz anderer Artikel hier stehen, einer, in dem es mal wieder so richtig ins Technische ging. Aber, wie der Teufel es will, hat sich kurz vor Redaktionsschluss noch eine Unklarheit ergeben, die weiterer Recherchen bedarf, und ich musste innerhalb eines Tages etwas Neues auf die Beine stellen. Es geht in dieser Kolumne um Fotografie, was lag also näher, als Ihnen ein paar meiner Fotos zu zeigen? Zur Technik sage ich diesmal nicht viel, sondern nur zu einem Reiseziel, das ich gerne besuche. Die Idee zu diesem Artikel verdanke ich nicht zuletzt Walter Vogels Buch über Italien. Es ist ein wunderschönes Buch über – wie Herr Vogel es nennt – ein Bilderland. Wenn Sie ein Buch mit tollen SW-Bildern von einem Fotografen lesen wollen, der mittlerweile rund 5 Jahrzehnte im Geschäft ist, ist das ein Buch für Sie. Meine Bilder können sich damit nicht messen. Aber es sind meine, und sie geben meine Sehweise wieder. Mehr zählt nicht.
Also denn, es geht um:
Venedig
Walter Vogel hatte mich gewarnt: „In Venedig ist es schwierig, nicht zu viele Bilder zu machen.“ Ich wusste, dass er Recht hat, denn ich fahre immer wieder nach Venedig, und immer sehe ich es neu. Venedig bietet so viel Schönes, und selbst das nicht so Schöne reizt zum fotografieren. Canal Grande von Rialto Richtung Salute |
Widmen wir uns aber erst einmal den Klischees:
Canal Grande
Venedig hat, wenn ich mich recht erinnere, so an die 400 Brücken und Brückchen, aber den Canal Grande können Sie nur an drei Stellen auf Brücken überqueren: vor dem Bahnhof über die Barfüßerbrücke, den Ponte dei Scalzi, über Rialto, und über die große Holzbrücke bei Accademia. Zwischen den Brücken gibt es aber etwas viel Interessanteres, nämlich die Traghetti. Ein Traghetto ist eine zum Massentransportmittel umfunktionierte Gondel. Als ich zum ersten Mal davon hörte, wollte ich das ausprobieren, und als meine Frau sah, dass in einer schmalen Gondel rund 15 Leute standen, wollte Sie mit meiner Tochter (damals 4 Jahre alt) lieber nicht ein so ein Ding steigen. Mir kam das sehr gelegen. Ich ließ fast mein ganzes Gepäck bei den beiden (Wer fällt schon gerne mit seiner ganzen schweren Ausrüstung in den Bach?) und fuhr einmal hin und einmal zurück. Das kann man sich locker leisten, kostet doch eine Passage mit dem Traghetto nur 40 ct. Entsprechend wenig beliebt ist dieser Dienst bei den Gondolieri, die ihn turnusmäßig (wie bei uns den Apotheken-Notdienst) absolvieren müssen. Inzwischen, nachdem sie gesehen hat, dass die Venezianer das schon können (und Touris benutzen die Dinger wenig), und dass ein Traghetto auch mit 15 Leuten drin nicht untergeht oder kentert, fährt meine Frau übrigens lieber Traghetto, als dass sie über eine der drei großen Brücken geht. Wenn man die Wahl hat, sich über Rialto schieben zu lassen oder bei Santa Sofia das Traghetto zu nehmen und in aller Ruhe über den Canal geschippert zu werden,… Gondoliere beim Traghetto-Dienst |
Markusplatz
Dass sich hier nicht nur die Tauben knubbeln, sondern auch die Touristen, tut der Schönheit der Piazza (In Venedig heißt nämlich nur ein Platz „Piazza“, und das ist dieser.) kaum Abbruch. Hier pulst das Leben. Zu diesem Klischee gehört auch einfach die Band, die so furchtbar falsch und übermäßig pathetisch gleich hintereinander Frankieboys „My Way“ und einen Strauß-Walzer spielt. Der Kellner des Gran Café Florian ist sich denn auch seiner herausgehobenen Stellung sehr bewusst und kann sich als einer der wenigen in Venedig eine Ausstrahlung leisten, bei der die Verachtung für die Touristen aus jedem Knopfloch strömt. Die Band vor dem Gran Café Florian und ein Kellner des Florian |
Als ich vor zwei Jahren im Januar in Venedig war, ging ich abends um 21 Uhr spazieren – und Venedig war wie eine Geisterstadt. Die drei Leute, die man am Markusplatz noch traf, konnte man glatt vernachlässigen. Und wenn irgendwo, ein paar Kanäle weiter, eine Frau mit hochhackigen Pumps unterwegs war, konnte man das hören, auch wenn man die Urheberin des Geräuschs nicht sehen konnte. Die Kulisse für Gruselkrimis! Dieses Jahr war ich um Ostern da. Wieder wollte ich den Markusplatz für mich haben, aber diesmal war dort auch um 22 Uhr noch die Hölle los. Zwei Bands spielten im Wechsel, und die Cafés hatten immer noch reichlich Kundschaft. Daher mein Rat weiter oben: Wenn Sie ungestört fotografieren wollen, stehen Sie früh auf, oder kommen Sie im Winter. Gran Café Quadri |
Caffé
Caffé, noch ein Grund Italien zu lieben. Nicht die dünne, an Säure reiche Plörre, die man hierzulande trinkt, sondern eine Flüssigkeit mit einer spürbaren Viskosität, bei uns Espresso genannt, aber in Italien nur Caffé. In Venedig, wie eigentlich überall in Italien noch preiswert zu haben, wenn man ihn im Stehen an der Bar trinkt (typischerweise für 80 ct.), oder teuer, wenn man sich an den Tisch setzt (meist das Doppelte). Mit reichlich Milch, als Caffélatte oder Capuccino, ist er der substanziellere Teil eines italienischen Frühstücks. Der Rest ist ein Brioche, eine Art ziemlich klebriger, mit Marmelade oder Pudding gefüllter Croissant. Morgens früh um halb acht, wenn die Cafés gerade öffnen, auf dem Campo Santa Margherita so zu frühstücken sollte man sich nicht entgehen lassen. Capuccino |
Gondeln
Nicht alles, was in Venedig mittels Rudern bewegt wird, sind im Übrigen Gondeln. Eine Gondel hat am Bug den Ferro, das Eisen, dieses S-förmige Stahlteil, welches den sich durch Venedig windenden Canal Grande, die sechs Stadtteile (Sestieri) und die Giudecca darstellt. Viel schöner finde ich die schlichten Sandoli, die meist kleiner, am Bug nur eine recht schlichte Verzierung aufweisen. Blick über den Bug eines Sandolo |
Aber es gibt mehr als den Canal Grande
Die von Motorbooten erzeugten Wellen schaden Venedig. Venedig steht auf Tausenden von in den Lagunenschlamm gerammten Eichenstämmen. Ein solcher Eichenstamm wird, wenn er denn unter Luftabschluss verbleibt, steinhart und trägt verlässlich das Fundament für ein Haus. Wird er jedoch durch Wellen immer wieder der Luft ausgesetzt, so wird er Stück um Stück zerfressen. Daher dürfen in vielen Seitenkanälen die Motorboote, wenn überhaupt, nur sehr langsam fahren. Überhaupt ist ganz Venedig derzeit eine große Baustelle. Überall zerfällt etwas und muss geflickt werden. Doch sollte Venedig eines Tages „wie neu“ aussehen, wäre es wohl nicht mehr Venedig, sondern eine Art Disneyland. Das echte Venedig finden Sie heute in den abseits gelegenen Bereichen, stückweise im schicken Sestiere di Dorsoduro, im schon etwas bürgerlicheren San Polo, und v.a. im relativ armen Cannaregio. So an die 60 000 Venezianer soll es noch geben. Sie können sich nicht von ihrer Stadt trennen, die zwar einige praktische Nachteile hat (Machen Sie mal einen Umzug per Boot, oder kaufen Sie jeden Tag zu Fuß ein.), die aber auch dank völliger Abwesenheit der Blechpest – gemeint ist das Auto – eine sehr leise Stadt ist. Durchblick in Venedig |
Campo und Campiello: Kommunikationszentren
Wie schon erwähnt, heißen Plätze in Venedig nicht, wie sonst meistens in italienischen Städten, Piazze, sondern Campi oder Campielli. Der Name Piazza ist dem Markusplatz vorbehalten. (Streng genommen auch nur einem Teil davon, der andere heißt Piazzetta.) Auf den Plätzen trifft man sich, man sitzt oder steht, man diskutiert. Heute, da man in Venedig „nichts mehr werden kann“, sind es hauptsächlich ältere Menschen, die dort sitzen. Campo = Kommunikationszentrum |
Literatur (nicht speziell zu Venedig)
Walter Vogel, Italien – Reisen in ein Bilderland, Edition Christian Brandstätter, 1999, ISBN 3-85498-003-5
Alle Bilder © Thomas Wollstein