Als Daguerre vor rund 150 Jahren seine ersten Platten belichtete, enthielt die lichtempfindliche Silberjodidschicht keinerlei Bindemittel. Sie war durch Jodbedampfung einer polierten Silberplatte entstanden. Fotografische Emulsionen, feinverteilte Silbersalze in einer lichtdurchlässigen Matrix, kamen rund zehn Jahre später in Form der Kollodiumplatten. Die entsprachen schon in etwa unseren heutigen Filmen, hatten aber einige gravierende Nachteile: Kollodiumschichten - eine Lösung von Nitrozellulose in organischen Lösungsmitteln - konnten im ausgetrockneten Zustand nicht verarbeitet werden. So musste sich jeder seine Emulsion selbst herstellen und zwar vor jeder Aufnahme frisch. Erst nachdem der britische Arzt John Maddox 1871 Gelatine als Bindemittel für lichtempfindliche Schichten vorgestellt hatte, konnte sich die Fotografie von einer "Geheimwissenschaft" zu einem "Massensport" entwickeln. Die Verwendung von Gelatine erlaubte die industrielle Herstellung von Trockenplatten, die lange Zeit gelagert werden können.
Naturprodukt mit vielen Vorzügen
Seitdem ersetzten flexible Papier- und Kunststoffträger die unbeweglichen Glasplatten, hielten Farbkuppler und T-Grains Einzug in die Emulsionen. Beim Bindemittel blieb dagegen alles beim Alten. Viele Hersteller versuchten zwar, die aus der Natur gewonnene Gelatine durch synthetische Stoffe zu ersetzen. Doch keines der Kunstprodukte brachte die gleiche Qualität. Nachdem moderne Technologie auch bei der Filmherstellung schon lange Einzug gehalten hat, wirkt die Gelatinegewinnung wie ein Relikt aus vergangenen Tagen. Der Weg zum Film beginnt nämlich im Schlachthof.
Dort werden Knochen und Häute entfleischt, entfettet und zerkleinert, bevor sie in Gelatinefabriken weiterverarbeitet werden. Für hochwertige Gelatine verwendet man heute ausschließlich Knochensubstanz. Zunächst wird durch Säurebehandlung das unlösliche Trikalziumphosphat, Ca3(PO4)2, in ein säurelösliches Salz, CaH4(PO4)2, umgewandelt und herausgelöst. Die demineralisierte Masse (Ossein) wird anschließend rund drei Monate lang in Lauge eingelegt - "geäschert" heißt das in der Fachsprache. Diese zeitaufwendige Prozedur liefert einen Rohstoff namens Kollagen, der auch als Grundstoff für viele Kosmetika dient. Aus dem Kollagen gewinnt man die "Bouillon", eine wässrige Lösung, in der alle bei 50 bis 60°C löslichen Bestandteile enthalten sind. Die Temperatur wird dann schrittweise bis zum Siedepunkt gesteigert; jeden Temperaturschritt nennt man Abzug. Die einzelnen Abzüge unterscheiden sich in ihren physikalischen Eigenschaften erheblich. Die Abzüge, die einen Gelatineanteil von sechs bis acht Prozent haben, werden dann filtriert, bei 50°C eingedickt und in dünnen Schichten erstarrt. Für fotografische Zwecke wird in erster Linie Gelatinegranulat verwendet, während Haushaltsgelatine als Pulver oder als Blattgelatine in den Handel kommt.
Chemisch gesehen, ist Gelatine ein Protein (Eiweiß) mit einem durchschnittlichen Molekulargewicht von 60.000. Das exakte Molekulargewicht kann, je nach Herkunft und Verarbeitungsprozess, zwischen 20.000 und 360.000 liegen. Wie jedes andere Protein besteht auch Gelatine aus unterschiedlichen Aminosäuren, die durch eine sogenannte Peptidbindung zu einer Kette verknüpft sind. Beim Ausgangsstoff der Gelatineherstellung, dem Kollagen, sind drei solcher Ketten umeinander gewunden. Während des Prozesses werden diese Ketten voneinander gelöst. Da außerdem verschiedene Seitengruppen der Kette untereinander reagieren können, entstehen lange, zufällig gefaltete Ketten. Je nach pH-Wert tragen diese Ketten unterschiedliche elektrische Ladungen. Diese positiven und negativen Ladungen sind wichtig für Interaktionen mit den ebenfalls geladenen Silberhalogeniden
Eine der wichtigsten Eigenschaften für die Fotografie ist die Fähigkeit zur Gelbildung - aus einer wässrigen Lösung beim Abkühlen zu erstarren und sich beim Erwärmen wieder zu verflüssigen. Diese reversible Gelierfähigkeit ist deshalb wichtig, weil die Emulsion während der Herstellung mehrmals verflüssigt und wieder erstarrt wird. Die Gelbildung ist vor allem von den Faktoren Molekulargewicht, Konzentration und Temperatur abhängig. Je höher die Konzentration und das Molekulargewicht und je niedriger die Temperatur, desto schneller wird die Gelatine fest.
Der Reifungsprozess
Damit die Schicht nun nicht bei höheren Temperaturen vom Träger läuft, wird sie gehärtet. Organische Substanzen, wie Aldehyde, oder Metallionen, wie Aluminium- oder Chromionen, vernetzen dabei die einzelnen Gelatinemoleküle miteinander. Dadurch steigt die Temperatur, bei der die Gelatine sich verflüssigt, stark an.
Doch die Gelatine ist mehr als nur Spielwiese für Silbersalze und Lichtquanten, sie hat selbst direkten Einfluss auf den fotografischen Prozess. Dieser Einfluss geht größtenteils auf das Konto sogenannter Mikrobestandteile:
Je nachdem, ob sie die Lichtempfindlichkeit erhöhen oder absenken, spricht man von Reifkörpern oder Hemmkörpern. Sie erleichtern oder erschweren die physikalische und chemische Reifung der Silberhalogenid-Kristalle. Unter diesen "Körpern" darf man sich keine Partikel vorstellen - es sind einfach nur chemische Substanzen. Die wichtigsten Reifkörper sind schwefelhaltige Verbindungen; vor allem Isothiocyanate, die in Mengen zwischen 0 und 50 ppm in der Gelatine vorkommen und Thiosulfate, die aus der schwefelhaltigen Aminosäure Cystein entstehen können. (ppm = parts per million, beispielsweise ein Gramm pro Tonne). Hemmkörper sind vor allem Nukleinsäuren, Nukleotide (die Einzelbausteine der Nukleinsäuren) und Mineralstoffe, wie Kalzium. Wie Reif- und Hemmkörper genau wirken, ist noch ungeklärt. Fest steht dagegen, dass der Gehalt an fotografisch aktiven Substanzen von Charge zu Charge variiert.
Das stört bei der Emulsionsherstellung, deshalb entfernt man diese Stoffe so vollständig wie möglich - durch Behandlung mit Oxidationsmitteln, Ionenaustauschern oder Adsorbern. Man erhält "Inertgelatinen", denen die vorher entfernten Stoffe dann genau dosiert wieder zugesetzt werden. Neben den Inertgelatinen werden noch sogenannte aktive Gelatinen und gehemmte Gelatinen verwendet, bei denen jeweils Reif- oder Hemmkörper als fotografisch aktive Substanzen überwiegen. Außerdem gibt es Semi-Inertgelatinen, wo sich die fördernden und hemmenden Substanzen in etwa die Waage halten.
Nicht nur die eigentlichen Emulsionen, auch Lichthofschutz- oder andere Funktionsschichten werden aus Gelatine gefertigt. Obwohl man schon seit mehr als 100 Jahren auf der Suche nach Ersatzstoffen ist, kann man bis heute nur rund 25 Prozent der Gelatine durch Kunststoffe ersetzen. Das Naturprodukt ist in der Vielfalt seiner Eigenschaften jedem synthetischen Polymer überlegen. Sie ist
- lichtdurchlässig.
- verhindert das Klumpen von Silberhalogenid-Kristallen bei der Ausfällung.
- erlaubt das Kornwachstum bei der physikalischen Reifung (Ostwald-Reifung). Die Kristalle können größer werden.
- lässt sich wiederholt schmelzen und erstarren.
- kann gehärtet werden und gewährleistet dadurch die mechanische Festigkeit der Emulsion.
- nimmt Bromid- und Chlorid-Ionen auf, die während der Belichtung gebildet werden und stabilisiert so das latente Bild.
- erlaubt den Stoffaustausch bei der Verarbeitung. Entwickler und Fixierer können schnell durch die Schicht diffundieren.
- stabilisiert als Schutzkolloid das entwickelte Silber.
- verleiht Barytpapieren ihren Hochglanz.
Nach einem Kunststoff, der die gleichen Eigenschaften in sich vereinigt, müssen die Chemiker womöglich ähnlich lange suchen, wie nach dem Stein der Weisen.